Verehrendes
Ich denke, dass ich den schönsten Arbeitsweg der Welt habe. Steige ich morgens auf das Rad, so fahre ich zunächst durch den schönen alten Weinort Oberdollendorf am Siebengebirge, vorbei an hutzligen, kleinen Fachwerkhäuschen, um dann am Rheinufer angekommen auf die Fähre zu steigen, die mich nach Bonn-Plittersdorf auf die andere Seite bringt. Ach, ist das herrlich, morgens mit dem Rad auf der Fähre zu stehen, auf das Siebengebirge, den Drachenfels zu blicken, den Sonnenaufgang hinter der Bergkette zu beobachten, den Dunst über den Rhein wahrzunehmen. Das ganze wird nun noch übertroffen.
Seit dem ich mit dieser Fähre fahre, habe ich einen reizenden Verehrer, nämlich den Herrn, der die 'Fährklappen' (?) bedient, die Karten verkauft und sie stempelt.
Begonnen hat alles ganz zart. Ich wurde von ihm zuvorkommend bedient. Er verkaufte mir eine Streifenkarte, und lächelte. Ich lächelte zurück.
In den darauf folgenden Tagen stempelte er meine Streifenkarte ab. Doch statt der drei Abschnitte, entwertete er nur zwei – mit einem verheißungsvollen Lächeln. Ich bedankte mich belustigt. Zeitweilig sagte er auch: „Für dich nur zwei.“
Einmal kam ich ein Gewitter. Ich war komplett nass. Mein T-Shirt klebte. Scheinbar habe ich an diesem Tag besonders aufregend auf ihn gewirkt. Zumindest sagte er: „Nass geworden?“ und grinste vielsagend.
Obwohl ich in den Monaten von Oktober bis März nicht mit dem Fahrrad und der Fähre fahre, kann er sich jedes Jahr im Frühling an mich erinnern und begrüßt mich in jeder neuen Saison mit den Worten: „Na, ist wieder Frühling?“
Er ist kein Mann der großen Worte. Sein Gesicht ist faltig und wettergegerbt, umgeben von dunklem, kräftigen Haar, seine tiefbraunen Augen funkeln stets – ich vermute, dass er seinem Akzent und Aussehen nach ein ungefähr 45 jähriger Italiener ist.
Dass ich verheiratet bin, stellt für ihn kein Problem dar. Selbst wenn ich mit meinem Mann Fähre fahre, flirtet er mit mir und entwertet bei uns beiden vier statt der erforderlichen sechs Felder.
Gestern fuhr ich wieder Fähre. Es regnete, ich stellte mich ein einer Ecke unter. Er kam, um meine Karte zu entwerten, deutete auf die neue Unterstellmöglichkeit und sagte: „Das haben wir für dich gemacht – bei Regen. Musst du heute arbeiten? Wie lange?“ „Ja, bis ungefähr drei Uhr, dann bin ich wieder hier.“ „Ach, dann bin ich nicht mehr da. Mach’s gut!“, verabschiedete er sich und tätschelte kurz meinen Arm.
Hatte ich erwähnt, dass ich den schönsten Arbeitsweg der Welt habe?